Lieber Ronald Lauder, sehr geehrte Damen und Herren,
Im Namen des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds möchte ich Sie herzlich begrüssen. Ihr zahlreiches Erscheinen beweist die Wichtigkeit und die Aktualität des Themas, mit dem wir uns heute Abend befassen:
Sowohl die Gurlitt-Sammlung als auch die neue Kulturbotschaft des Bundes sorgen derzeit für Gesprächsstoff. Das Bewusstsein dafür, dass die Herkunft von Kunst geklärt werden muss, ist stärker denn je. Das ist eine gute Grundlage, um die vielen ungelösten Probleme anzugehen.
Ich möchte Ihnen die Schwierigkeiten im Umgang mit Raubkunst, bzw. den sogenannten NS-verfolgungsbedingten Verlusten, an einem Beispiel illustrieren:
Kürzlich erschien der mit Spannung erwartete Bericht der „Taskforce Schwabinger Kunstfund“. Meine Enttäuschung war gross. Während zwei Jahren hat eine internationale Expertengruppe die spektakuläre Kunstsammlung von Cornelius Gurlitt auf ihre Provenienz hin untersucht. Auf 500 der insgesamt 1500 Werke fiel der Verdacht der Raubkunst. Knapp 1,9 Millionen Euro standen der Taskforce zur Verfügung.
Gerade mal bei elf Werken wurde die Provenienz lückenlos aufgeklärt!
Und nur bei fünf Bildern bestätigte sich der Verdacht der NS-Raubkunst!
Die Süddeutsche Zeitung sprach dann auch pointiert von einem „Nichtabschlussbericht“.
Von verschiedener Seite wurde der Taskforce vorgeworfen, es mangle ihr an Transparenz und Kommunikation. Dies wiederum spiegelt sich im mageren Resultat wieder und zeigt die Probleme exemplarisch auf.
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz zurückblenden: 1998 wurde die sogenannte Washingtoner Erklärung von 44 Staaten, darunter auch die Schweiz, unterzeichnet. Sie ist eine rechtlich nicht bindende Übereinkunft. Die unterzeichnenden Staaten haben sich aber dazu verpflichtet, für das Auffinden und die Rückgabe von Kunstwerken, welche vom NS-Regime beschlagnahmt worden waren, zu sorgen. In den letzten Jahren hat die Washingtoner Erklärung es möglich gemacht, dass weit über 1000 Gemälde und Kunstobjekte aus etwa 20 Staaten an die Eigentümer oder ihre Erben restituiert wurden.
Doch die Washingtoner Erklärung hat auch ihre Schwächen: Denn es herrscht die Meinung vor, dass Sie nur auf Kunstwerke angewendet werden kann, die sich in staatlichen Institutionen befinden.
Die Verpflichtung zur Provenienzforschung und einer allfälligen Restitution betreffen aber auch private Museen, Kunsthändler und Sammler. Dies geschieht nämlich über die jeweiligen Verbände, denen sie angeschlossen sind.
Gerade in der Schweiz gibt es zahllose private Sammler und Kollektionen. Leider fehlen diesen oft die finanziellen und personellen Ressourcen, um die Herkunft ihrer Kunstwerke zu recherchieren. Dennoch möchte ich hier gerade an die privaten Besitzer von Kunstwerken in der Schweiz appellieren: Lassen Sie Ihre Stücke aktiv abklären! Auch wenn dies aufwändig und mit Kosten verbunden ist. Vor allem wenn Sie Ihre Werke eines Tages öffentlich zeigen, in eine Stiftung überführen oder auch verkaufen wollen, sind Sie gut beraten, in die Provenienzforschung zu investieren.
Doch wie verhält es sich mit öffentlichen Institutionen? Der Bund und zahlreiche Museen, in der Schweiz, aber auch weltweit, arbeiten schon seit Jahren ihre Bestände auf. Selbstverständlich begrüsse und unterstütze ich das. Mehrfach wurde Raubkunst identifiziert und restituiert. Doch es kann und es muss noch mehr getan werden!
Dass gerade die Museen mit dieser Aufgabe oft an ihre Grenzen kommen, ist mir bewusst. Doch weil es sich hier um Institutionen handelt, die mit öffentlichen Geldern finanziert werden, wünsche ich mir, dass auch Bund, Kantone und Gemeinden in die Pflicht genommen werden und Hand bieten. Nicht nur private Kunstbesitzer, auch öffentliche Häuser, Museen und letztendlich der Staat haben einen Ruf zu verlieren!
Sehr positiv bewerte ich in diesem Zusammenhang die aktuelle Initiative der deutschen Krupp-Stiftung: Sie plant an der Universität Bonn den bundesweit ersten Lehrstuhl zur Provenienzforschung. Ein solcher universitärer Lehrstuhl in der Schweiz würde uns in der Sache einen grossen Schritt voranbringen.
Immer wieder taucht der Begriff „Fluchtgut“ oder „Fluchtkunst“ auf. Was hat es damit auf sich? Dazu möchte ich nun einige Gedanken mit Ihnen teilen:
Der Begriff wurde in den 1990er-Jahren von der Bergier-Kommission eingeführt.
Die Schweiz ist das einzige Land, das zwischen Flucht- und Raubkunst unterscheidet.
Als Raubkunst werden allgemein Kunstwerke bezeichnet, die während der Zeit des Nationalsozialismus geraubt beziehungsweise „NS-verfolgungsbedingt entzogen“ wurden. Die Opfer des Raubs waren vor allem Juden.
Als Fluchtkunst werden, in Abgrenzung zur Raubkunst, diejenigen Kulturgüter bezeichnet, welche Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs mit sich nahmen und ausserhalb der von NS-Deutschland kontrollierten Gebiete verkauft haben. Mit einem Verkauf – oft weit unter dem damaligen Marktwert – finanzierten sie beispielsweise ihre weitere Flucht oder diejenige ihrer Verwandten.
Der heutige Umgang mit Fluchtgut und Restitutionsansprüchen gestaltet sich äusserst schwierig: Grundsätzlich hält sich die Annahme, dass die Menschen auf der Flucht ihre Kunstwerke zu fairen Preisen und ohne Not verkauft haben. So gehen heute viele – oft zu Unrecht – davon aus, dass zwischen Käufer und Verkäufer ein faires Geschäft abgeschlossen wurde.
Der heutige Besitzer fühlt sich daher weder zu Recherchen, geschweige denn zu einer „fairen und gerechten Lösung“ verpflichtet. Der Besitzer, der notabene am damaligen Geschäft gar nicht mitgewirkt hat und den – das soll hier auch gesagt sein –keine Schuld oder Verantwortung treffen.
Im vergangenen Herbst hat Isabelle Chassot, die Direktorin des Bundesamts für Kultur, erstmals öffentlich die Unterscheidung zwischen Raub- und Fluchtkunst kritisiert und sich für deren Aufhebung ausgesprochen. Die deutsche Bezeichnung «NS-verfolgungsbedingte Verluste» sei viel präziser. Und sie verlangte, dass die Provenienzforschung aktiver angegangen werde. Diese Forderung ist denn auch zum ersten Mal und ausdrücklich in der Kulturbotschaft 2016-2020 festgehalten, die vor einigen Tagen erläutert wurde.
Hier heisst es, eine nicht einwandfreie Provenienzforschung berge ein erhebliches Risiko für den guten Ruf eines Staates. Seine eigenen Kunstbestände hat der Bund bereits untersucht.
Das BAK erwartet nun aber, dass öffentliche, ebenso wie private Eigentümer von Kulturgütern der Provenienzforschung Priorität einräumen.
Provenienzforschung ist teuer. Deshalb stimmt mich die Bereitschaft des BAK, dafür in den nächsten vier Jahren 2 Millionen Franken bereitzustellen, sehr positiv.
Erfreulicherweise besteht mittlerweile auch ein breiter Konsens darüber, dass die Forschungsergebnisse nicht in den Archiven verschlossen bleiben dürfen. Die Zugänglichkeit der Erkenntnisse ist unerlässlich, die Ergebnisse müssen publiziert werden!
Auch ich plädiere dafür, Fluchtkunst unter dem Begriff der „NS-verfolgungsbedingten Verluste“ zu subsumieren. Gleichzeitig kann ich die Wichtigkeit der Provenienzforschung nicht genug betonen. Immer wieder neu müssen die Umstände geklärt und öffentlich gemacht werden, unter denen während der NS-Herrschaft Kunstwerke den Besitzer gewechselt habe.
Auch wenn keine rechtliche Verpflichtung besteht, dann ganz sicher eine moralische. Eine moralische Pflicht, dem ehemaligen Besitzer oder seinen Nachkommen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!
„Lost Art – Lost Justice?“. „Verlorene Kunst – Verlorene Gerechtigkeit?“, das ist die Frage, die wir uns heute stellen. Die Antwort darauf ist ein entschiedenes „Nein“!
Ich übergebe das Wort nun an Ronald S. Lauder, der die Materie kennt wie kein Zweiter. Seit Jahrzehnten setzt er sich unermüdlich für Aufklärung und Gerechtigkeit bei NS-verfolgungsbedingten Verlusten ein. Er ist Kunstexperte und bedeutender Kunstsammler, Mäzen und Philanthrop, erfolgreicher Unternehmer und Präsident des New Yorker Museum of Modern Art. Von 1986 bis 1987 war Ronald Lauder Botschafter der Vereinigten Staaten in Österreich. Seit 2007 ist er Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC).
Ronald, du hast das Wort. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Photo: Phelia Barouh