Präsident des Jüdischen Weltkongresses in BILD: „Auschwitz war der Zenit alles Bösen“

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Von: Hans-Jörg Vehlewald

Vor 75 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee befreit. Über eine Million Juden wurden dort ermordet, nur weil sie Juden waren.

BILD fragte Ronald S. Lauder, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, was dieser Jahrestag bedeutet und warum Antisemitismus bis heute ein Thema ist, das die Welt bewegt.

BILD: Präsident Lauder, Sie begehen heute den 75. Jahrestag der Befreiung des Todeslagers Auschwitz. Welches Signal wollen Sie senden?

Ronald S. Lauder:Auschwitz ist DAS Symbol für den Holocaust. Eine Million Menschen wurden hier ermordet, weil sie Juden waren. Auschwitz war der teuflische Zenit alles Bösen, zu dem Antisemitismus führen kann. Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben. Denn Rassismus und Judenhass sind nicht ausgerottet. Im Gegenteil: Sie wachsen weiter, weltweit!“

BILD: Welche Erklärung haben Sie dafür?

Lauder: „Nach der Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren sah die Welt die Leichenberge, die Krematorien, die ausgehungerten Opfer, die überlebt hatten – und sie waren geschockt, angeekelt. Mit diesen unsagbaren Verbrechen der Nazis wollte über viele Jahre niemand in Verbindung gebracht werden. Das änderte sich über Jahrzehnte. Jetzt sind wir drei Generationen weiter. Und vor allem junge Menschen hören wieder hin, wenn Juden beschuldigt werden, sie wollten die Welt ins Unglück stürzen. Deshalb ist es so wichtig, daran zu erinnern, wozu Hass und Rassismus führen. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle letzten Oktober zeigt das deutlich.“

Präsident Lauder (dunkelbrauner Mantel) schreitet durch das Tor zum KZ Auschwitz

Präsident Lauder (dunkelbrauner Mantel) schreitet durch das Tor zum KZ Auschwitz

Foto: WOJTEK RADWANSKI / AFP

BILD: Welche Schlüsse haben Sie aus dem Attentat in Halle gezogen?

Lauder: „Halle hat mir gezeigt, dass die Politik mehr tun muss, um vor allem junge Menschen zu sensibilisieren gegen den Hass im Internet. Der Täter war bestens informiert über den Holocaust. Ihm fehlten nicht Fakten, er zog nur hasserfüllte Schlussfolgerungen, die er erfolgreich im Netz verbreitete. Gegen diesen Hass müssen die Politik und wir alle kämpfen, durch Erziehung und Aufklärung.“

BILD: Sie waren viele Male im ehemaligen KZ in Auschwitz. Wer immer die Gedenkstätte besucht, hat einen Anblick, einen Moment, den er nie vergisst. Welchen Moment werden Sie nie vergessen?

Lauder: „Den Anblick der Kinderschuhe, die dort zu Tausenden liegen. Schuhe von Kindern, die an der Hand ihrer Eltern ins Lager kamen und ermordet wurden. 1,5 Millionen Kinder kamen im Holocaust um. Ich muss dann daran denken, was aus diesen Kindern hätte werden können: Hätten sie später Bücher geschrieben? Hätten sie Erfindungen gemacht? Medizinische Entdeckungen? Ein Mittel gegen Krebs gefunden? Das werden wir nie erfahren. Wenn ich dann einen Kinderschuh sehe, in dem noch eine Socke steckt, weil das Kind alles ordentlich machen wollte – dann kommen mir noch immer die Tränen, weil dieses kleine Wesen ermordet wurde und nie eine Chance hatte.“

BILD: BILD hat das Auschwitz-Tagebuch von Sheindi Miller (90) veröffentlicht – Aufzeichnungen, die 75 Jahre verborgen waren. Ist auch das ein Weg gegen das Vergessen?

Lauder: „Ja, auch das ist ein Weg! 54 Seiten voller Erinnerung. Mich erinnert die Geschichte an das Tagebuch von Anne Frank. Und ich hoffe, es wird ähnlich aufmerksam gelesen. Meine Befürchtung ist, dass viele junge Menschen nicht mehr die Geduld haben, diese Texte zu verarbeiten. Sheindis Tagebuch ist ein wichtiges Dokument. Aber selbst ein Schuh mit einer einzelnen Socke kann viel bewirken. Wir müssen alles daran setzen, dass sich Menschen erinnern an das, was geschah.“

BILD: Darum berichtet BILD auch in einem aufwändigen Video und einer Serie über Sheindi und ihr Schicksal, lässt sie selbst erzählen, was war…

Lauder: „Und das ist richtig so. Deutschland muss deutlich mehr tun, um Menschen aufzuklären. Ich war selbst in Halle nach dem Anschlag, und ich weiß: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland, einen Unterschied in der Aufklärung der Menschen über Antisemitismus und seine Folgen.

Aber den größten Nachholbedarf gibt es im Kampf gegen Hass und Rassismus im Internet. Wir könnten und müssten viel mehr tun gegen die Hetze in den Sozialen Netzen. Das ist keine Frage mangelnder Technik. Das ist eine Frage des Willens, den Menschen das Handwerk zu legen, die im Internet Rassismus und Judenhass verbreiten."

BILD: Welchen Stellenwert messen Sie der Aktion #WeRemember zu, in der sich Millionen, darunter auch viele BILD-Leser, gegen das Vergessen einsetzen?

Lauder: „Diese Aktion hat gewaltige Wirkung. Die Zahl der Teilnehmer ist gigantisch, das geht auf die Milliarde zu. Jeder, der das Zeichen #WeRemember in die Kamera hält, erinnert nicht nur daran, dass Antisemitismus zur Ermordung von sechs Millionen Juden führte. Er erinnert auch an 60 Millionen Opfer weltweit – darunter auch viele Deutsche, die im 2. Weltkrieg ihr Leben verloren. Und wofür? Für die Besessenheit eines einzelnen Mannes…“

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